Zur „Standortbestimmung“ in der Entfaltung unseres Themas ein kurzer Überblick.
Der Ausgangspunkt war die Begegnung mit dem Pestbild in Schloß Bruck in Lienz. Wir haben danach weitere Bilder dieses Typus betrachtet, deren jeweilige Besonderheiten kennen gelernt, vor allem aber die (fast) gleichbleibenden ikonographischen Merkmale aller Darstellungen herausgearbeitet und aufgelistet. Diese Charakteristika wurden in den folgenden Kapiteln dann genauer beschrieben und auf ihren Ursprung hin untersucht. Als das wesentliche Element der Pestbilder haben wir die gemeinsame Interzession von Jesus und Maria genauer betrachtet und der Übertragung dieses Motivs auf verwandte Darstellungen nachgespürt: beim Tribunal der Barmherzigkeit, dem Partikulargericht und – mit der notwendigen Abwandlung – dem Weltgericht. Auch dem ikonographischen Mißbrauch des Motivs sind wir auf die Spur gekommen.
Eine theologische Reflexion der einzigartigen Mittlerschaft Marias steht noch aus; die Schilderung der bloßen Faktizität ihrer mittlerischen Tätigkeit, wie sie sich in den Anrufungen und den Legenden des Volkes widerspiegelt, reicht zur Begründung ihres Titels Mediatrix nicht aus. Aber die allseits erflehte und immer gewährte Fürbitte der Gottesmutter in geistlichen und irdischen Nöten, die überragende Stellung Marias im Frömmigkeitsleben des mittelalterlichen Menschen gibt uns den Anstoß zu den Fragen: Wie ist diese Stellung näherhin zu charakterisieren? Wie hat sie sich entwickelt? Ist sie theologisch zu rechtfertigen? Gab es Vorbehalte und Widerspruch?
Schon in früher Väterzeit wurde die Stellung Marias im Heilswerk Gottes reflektiert, vor allem im Hinblick auf die Kirche, weniger zunächst auf den einzelnen Christen. Die Parallele Adam – Christus fand ihre Entsprechung im Verhältnis Eva – Maria, so in aller Deutlichkeit schon bei Irenäus von Lyon († um 202).[346] Jesus und Maria heben das Unrecht der ersten Menschen auf und schaffen einen neuen Heilsstand. Dies wird zum einhelligen Motiv aller Väter, wie sehr man auch ringen muß um das rechte Verständnis dieses Heilsgeheimnisses und – was noch schwieriger scheint – um die ihm angemessene Formulierung.
Die mariologischen Reflexionen (z.B. der Gottesmutterschaft, der Jungfräulichkeit, der Sündenlosigkeit) kulminieren in der Frage, welche Stellung und welche Aufgabe Maria im Heilswerk Gottes und damit in der Kirche hat. Die Antworten darauf kreisen um die Begriffe und Aussagen wie: „Typus der Kirche“[347], „Ursache des Heils“[348], „Die Jungfrau empfing das Heil, um es den Jahrhunderten weiterzugeben.“[349]. Die Rede ist dabei von der Compassio Mariae, von der Corredemptrix, der Mediatrix, der Dispensatrix omnium gratiarum. Hingewiesen wurde schon auf die zahllosen Anrufungen bei Ephräm dem Syrer[350], die Aussagen dieser Art beinhalten oder voraussetzen. Auch in Hymnen jener Zeit werden diese Vorzüge und Aufgaben Marias gepriesen.[351]
Im Hinblick auf unser Thema stellt sich insbesondere die Frage, wieso Maria Mittlerin und Spenderin aller Gnaden ist und wie darin ihr Verhältnis zu dem von Gott bestellten Mittler Jesus Christus zu sehen ist.
Väter und spätere Theologen haben die Mittlerschaft Marias in ihrer Teilhabe am Erlösungswerk Jesu begründet gesehen. Dieses konnte nur endgültig zustande kommen, wenn es auch von der Menschheit angenommen wurde. Dem aktiven Erlösungshandeln Jesu stand die rezeptive Entgegennahme dieses Heilswerkes durch die Kirche gegenüber. Maria war es aber, die unter dem Kreuze Jesu die Kirche repräsentierte. „Maria hat also mitgewirkt bei der Erlösung der Kirche in rezeptiver Kausalität. Diese aber ist in der Verwirklichung der Erlösung eine wirkliche Kausalität.“[352]
Der Titel „Miterlöserin“ ist – auch im Hinblick auf Ökumenebestrebungen – zu einem theologischen Reizwort geworden. Semmelroth, dessen Argumentationsgang ich mich hier anschließe, hält fest: „Prinzip der Erlösung ist er (Jesus) allein, das Erlösungswerk ist sein eigenes und einzig sein Werk.“ Und es ist „nur ein Mittler zwischen Gott und den Menschen.“[353] Er warnt vor dem Mißverständnis, daß Maria „mit Christus ein zweites, wenn auch untergeordnetes, aber doch miterwirkendes, mitverdienendes Prinzip der Erlösungsgnade wäre.“[354] Der Gedanke der Miterlösung leitet sich von der Parallele oder Gegenüberstellung Eva – Maria ab, nach der Maria als zweite Eva die Wirkungen des Sündenfalls durch ihren Gehorsam aufhob, „eine Auffassung, die wie selten eine andere Lehre einmütiges und ununterbrochenes Lehrgut der Überlieferung ist.“[355]
Maria ist als zweite Eva die Mutter der erlösten Menschheit; sie repräsentiert unter dem Kreuz die Kirche, die die Erlösung Christi empfangend entgegennimmt. „So ist sie im wahrsten Sinne miterlösend tätig; denn wenn sie es nicht täte, wäre das Werk Christi selbst zwar erlösungsmächtig, aber nicht tatsächlich erlösungswirksam.“[356] Marias Mitwirkung bei der Erlösung ist demnach nicht „produktiv“, sondern „rezeptiv“, was aber nicht als „reine Passivität“ zu verstehen ist. Maria nimmt die Funktion der Kirche wahr, die aktiv in empfangendem Mitwirken an der Erlösung teilnimmt.
So ist Maria keine Konkurrentin des Heilswirkens Jesu; ihr Mittun bedeutet nicht, dem Sohn einen wie immer gearteten Teil der Erlösungstat abzunehmen, so daß Jesus nicht mehr wirklich allein die ganze Erlösung gewirkt hätte. Wohl aber hat in ihr die Kirche das Geschenk der Erlösung entgegen genommen, so daß es heilswirksam werden konnte. Nur in diesem Sinne kann Maria Miterlöserin genannt werden, und in diesem Sinne, „in der Haltung des Empfangens als Typus der die Erlösung empfangenden Kirche“,[357] ist sie auch als Fürsprecherin bei Gott tätig. Ihre Mittlerschaft setzt sich in genau derselben Weise fort. Auch im Himmel verdrängt sie nicht den „einen Mittler zwischen Gott und den Menschen“ (1 Tim 2,5). Sie empfängt die Gnaden und vermittelt sie weiter; aber „nicht wie ein lebloser Kanal,[358] sondern in personaler Tat.“[359]
Die mittelalterliche mönchische Theologie, wie sie von Bernhard und Arnold von Chartres vertreten wird, deckt sich in ihren Aussagen über Maria mit diesen Vorstellungen von der Bedeutung Marias im Heilswerk Gottes und der Kirche. Aber sie setzt auch religionspädagogische Akzente, die nicht nur das Frömmigkeitsleben des Alltags beeinflußten, sondern auch zu gefährlichen theologischen Mißverständnissen führen konnten. Beide Aspekte sollen in den folgenden Abschnitten angesprochen werden.
Arnold schreibt in seinem - uns schon bekannten – Büchlein „De laudibus B. Mariae Virginis“ gleich im Anschluß an den Satz von der Heilstreppe: „Dividunt coram Patre inter se mater et filius pietatis officia (...) Maria Christo se spirito immolat et pro mundi salute obsecrat, Filius impetrat Pater condonat. (...) Movebat enim eum (sc. Jesum) matris affectio, et omnino tunc erat una Christi et Mariae voluntas, unumque holocaustum ambo pariter offerebant Deo: haec in sanguine cordis, hic in sanguine carnis.“[360] (Etwa so zu übersetzen: Es teilen vor dem Vater sich Mutter und Sohn die Werke der Frömmigkeit (...) Maria opfert sich Christus im Geiste und fleht für das Heil der Welt, der Sohn erlangt, der Vater schenkt. (...) Es bewegte ihn (Jesus) die Zuneigung der Mutter, und völlig eins war damals der Wille Christi und Marias, und das eine Ganzopfer brachten beide zugleich dem Vater dar: diese im Herzblut, dieser im Blut des Fleisches.)
Einige Textspalten weiter[361] wird diese Verbundenheit im Opfer noch einmal betont: „Quod in carne Christi agebant clavi et lancea, hoc in ejus mente compassio naturalis et affectionis maternae angustia.“ (Was im Fleisch Christi Nägel und Lanze anrichteten, das (bewirkten) in ihrem Geist das natürliche Mitleiden und die Bedrängung der mütterlichen Zuneigung.) Trotzdem darf bei Maria im Angesichte der sich vollziehenden Erlösung und im Gefühl ihres Mitleidens kein Zweifel aufkommen, daß Jesus allein die Erlösung bewirkt: „Sed Jesus alieno adjutorio non indigebat.“[362] Sie gehört trotz ihrer großen Vorzüge auf die Seite derer, für die Jesus dem Vater das Opfer seines Blutes darbringt. Das Erlösungsopfer ist allein Sache Jesu. Marias Teilhabe ist von anderer Qualität, trotz des gemeinsam dargebrachten Ganzopfers.
In seiner Abhandlung über die sieben Worte Jesu am Kreuz hat der Abt Arnold diese Gedanken noch einmal im dritten Traktat zu dem Wort Jesu: „Frau, siehe da deinen Sohn“ aufgenommen.[363] Er unterscheidet nach alttestamentlichem Vorbild (Ex 27 und 30) zwischen zwei Altären, dem Brandopferaltar und dem Rauchopferaltar, die er auch im Leib Christi und im Herzen Marias aufgerichtet sieht. „Christus carnem, Maria immolabat animam“ (Christus opferte sein Fleisch, Maria die Seele). Und obwohl Maria gern auch das Blut ihres Leibes hinzugefügt hätte, um mit Jesus durch ihren leiblichen Tod das Mysterium unserer Erlösung zu vollziehen („et cum Domino Jesu corporali morte redemptionis nostrae consummare mysterium“), mußte sie dieses Privileg einzig dem Hohenpriester Jesus überlassen.
Marias Mitwirken beim großen Versöhnungswerk Jesu mit dem Vater besteht im Opfer ihres Geistes, ihres herzlichen Mitleidens mit ihrem Sohn und in ihrer Fürbitte.
Von welcher Art diese Fürsprache weiterhin ist, hatte der Abt bereits in seinem Büchlein „De laudibus B. Mariae Virginis“[364] am Ende des Traktats dargestellt. Zusammen mit ihrem Sohn erfleht sie vor Gottes Thron Barmherzigkeit und Vergebung der Sünden für jeden Bußfertigen. Und da Jesus Anwalt und Richter zugleich ist („cumque idem sit advocatus et judex“), wird sein Gericht barmherzig urteilen. Die Rollenverteilung beim Kreuzesopfer und bei der Rettung der reumütigen Sünder fällt für Christus und Maria also eindeutig aus, und die Grenzen werden sichtbar. Der Weg zu Gott, den Christus allein frei gemacht hat, führt für die Christen über Maria zu Christus und zu Gott.
Zu den geschichtswirksamsten Predigten des Abts von Clairvaux gehört jene zum Fest Mariä Geburt mit dem etwas ungewöhnlichen Titel „De aquaeductu“[365], zu deutsch: Der Aquaedukt oder -prosaischer- Die Wasserleitung[366]. Gemeint ist Maria. Wenn man Maria eine Wasserleitung nennt, klingt das nicht sehr erbaulich. Die eindrucksvollen Aquaedukte aus der Römerzeit in Südfrankreich dagegen waren manchen Mönchen in Clairvaux sicher bekannt und machten den Vergleich mit Maria nicht delikat.
Hinzu kommt nach meiner Ansicht noch folgende Überlegung: Alle Zisterzienserklöster wurden an Wasserläufen gebaut wegen des großen Wasserbedarfs für Menschen, Tiere und Werkstätten. Wo das nicht möglich war, staute man an höher gelegenen Flächen das Wasser und leitete es künstlich und oft kunstvoll talwärts zu dem Kloster. Auch diese Aquaedukte wurden mit Respekt betrachtet.[367] – O. Semmelroth nimmt, wie wir gesehen haben, in seinem Buch „Urbild der Kirche“ den Vergleich Bernhards auf.[368]
Sechsmal (wenn ich richtig gezählt habe) verwendet Bernhard in dieser Predigt das Bild vom Aquaedukt, um Marias Gnadenvermittlung von der himmlischen Quelle Christus hin zu uns Menschen zu veranschaulichen. Unnachahmlich ist in dieser Predigt der Einfallsreichtum an biblischen Hinweisen und Bezügen, mit denen er – assoziativ oder argumentativ – seine Lobpreisungen Marias belegt! Und wie frauenfreundlich klingt es, wenn er Gottes Handeln an Maria so erläutert: „Forte ut excusaretur Eva per filiam, et querela viri adversus feminam deinceps sopiretur.“[369] („Vielleicht sollte Eva durch die Tochter entschuldigt werden und die Klage des Mannes gegen das Weib fortan verstummen.“)[370]
Alle Hoffnung ruht allein auf Maria, ohne sie gibt es keinen lichten Tag, ohne den Meeresstern ist alles dunkel, Todesschatten und Finsternis.
Und dann folgt der Abschnitt 7, der Höhepunkt der Predigt, den ich wegen seiner Bedeutsamkeit in Gänze zitieren möchte.[371]
Totis ergo medullis cordium, totis praecordiorum affectibus, et votibus omnibus Mariam hanc veneremur; quia sic est voluntas ejus, qui totum nos habere voluit per Mariam. Haec, inquam, voluntas ejus est sed pro nobis. In omnibus siquidem et per omnia providens miseris, trepidationem nostram solatur, fidem excitat, spem roborat, dissidentiam abigit, erigit pusillanimitatem. Ad patrem verebaris accedere, solo auditu territus, ad folia fugiebas; Jesum tibi dedit mediatorem. Quid non apud talem Patrem Filius talis obtineat? Exaudietur utique pro reverentia sua: Pater enim diligit Filium. An vero trepidas et ad ipsum? Frater tuus est et caro tua, tentatus per omnia absque peccato, ut misericors fieret. Hunc tibi fratrem Maria dedit. Sed fortisan et in ipso majestatem vereare divinam, quod licet factus sit homo, manserit tamen Deus. Advocatum habere vis et ad ipsum? Ad Mariam recurre. Pura siquidem humanitas in Maria, non modo pura ab omni contaminatione, sed et pura singularitate naturae. Nec dubius dixerim, exaudietur et ipsa pro reverentia sua. Exaudiet utique Matrem Filius, et exaudiet Filium Pater. Filioli, haec peccatorum scala, haec mea maxima fiducia est, haec tota ratio spei meae. Quid enim? Potestne Filius aut repellere, aut sustinere repulsam; non audire, aut non audiri Filius potest? Neutrum plane. Invenisti, ait angelus, gratiam apud Deum. Feliciter. Semper haec inveniet gratiam, et sola est gratia qua egemus. Prudens virgo non sapientiam, sicut Salomon, non divitias, non honores, non potentiam, sed gratiam requirebat. Nimirum sola est gratia, qua salvamur. |
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So laßt uns denn aus ganzem Herzen, mit aller Innigkeit des Gemütes, mit aller Hingabe Maria verehren, weil es so der Wille dessen ist, der wollte, daß wir alles durch Maria hätten. Dies sage ich, ist sein Wille, aber zu unsern Gunsten. Denn er sorgt in allem und durch alles für uns Armselige. Tröstet uns in der Verzagtheit, weckt unsern Glauben, stärkt die Hoffnung, verscheucht das Mißtrauen, richtet den Kleinmut auf. Du scheutest dich, vor den Vater hinzutreten. Beim bloßen Hören seiner Stimme suchtest du angstvoll dein Heil in der Flucht – hinter Feigenblättern. Da gab er dir Jesus als Mittler. Was soll ein solcher Sohn bei einem solchen Vater nicht erlangen? Gewiß wird er ob seiner Ehrfurcht Erhörung finden. Denn der Vater liebt den Sohn. Fürchtest du dich etwa auch vor diesen hinzutreten? Dein Bruder und dein Fleisch ist er, versucht in allem, nur die Sünde ausgenommen, damit er Mitleid lerne. Ihn gab Maria dir zum Bruder. Doch vielleicht bangst du auch ihm gegenüber vor der göttlichen Majestät; denn wenn er auch Mensch geworden, blieb er dennoch Gott. Willst du einen Fürsprecher bei ihm haben? Wende dich an Maria! In Maria ist die reine Menschheit nicht nur rein von jeder Makel, sondern auch rein im Sinne einer ausschließlich menschlichen Natur. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß auch sie wegen ihrer Ehrfurcht erhört wird. So wird der Sohn die Mutter erhören und der Vater den Sohn. Sie ist die Himmelsleiter für die Sünder, sie mein höchstes Vertrauen, sie der ganze Grund meiner Hoffnung. Wie denn? Kann der Sohn sie zurückweisen oder es ertragen, daß sie zurückgewiesen wird? Ist es denn möglich, daß der Sohn sie nicht erhört oder selber (vom Vater) nicht erhört wird? Nein, beides ist unmöglich! Der Engel spricht: „Du hast Gnade gefunden bei Gott.“ Heil uns! Sie wird immer Gnade finden, und die Gnade ist alles, was uns not tut. Die kluge Jungfrau verlangte nicht Weisheit wie Salomon, nicht Reichtum, nicht Ehren, nicht Macht, sondern Gnade; denn einzig die Gnade ist es, wodurch wir gerettet werden. |
Die Ratschläge des hl. Bernhard sind zunächst an seine Klostergemeinschaft gerichtet und wohl auch an viele der anderen Gründungen weitergereicht worden, von denen es in seinem Todesjahr 1153 bereits 351 (nach anderer Zählung 343) gab und „bis 1342, d.h. bis zum Ende der ‚goldenen Zeit‘, 728. Die Zahl der Frauenklöster war noch größer.“[372] Aber sie gelangten über den Orden und über die Kanzeln natürlich auch ins Volk. L.Kretzenbacher spricht in diesem Sinne vom „weitwandernden hagiographischen Schrifttum“. „Es wurde in Klosterzelle und Einsiedelei ergrübelt, war in den Hörsälen der großen theologischen Schulen vorgetragen, war in der Predigt dann auch ‚dem Volke‘ ohne jegliche soziale Unterschiede vermittelt worden.“[373]
Hat Bernhard solche Inspirationen neu kundgetan, oder hat er das allgemeine religiöse Bewußtsein nur in griffige Formulierungen gebracht? Jedenfalls fand die intensive und manchmal auch wohl überbordende Marienfrömmigkeit des Mittelalters in diesen Sätzen eine Rechtfertigung: Gottvater kann man fürchten, auch Jesus kann man fürchten, ist er doch trotz seiner Menschennatur Gott geblieben, aber da ist Maria! In ihr ist nur und ausschließlich die menschliche Natur vorhanden! (Die Gefahr lauert also bei Gott.) „Sie ist die (Himmels-) Leiter der Sünder, sie mein höchstes Vertrauen, sie der ganze Grund meiner Hoffnung,“ sagt Bernhard. Die damit verbundene Pädagogik entsprach sicher dem religiösen Zeitgeschmack und beförderte ihn noch, die verbale Akzentuierung konnte sie aber theologisch verdächtig machen. Verständlich, daß kritische Geister und natürlich Luther später daran Anstoß nahmen! Die Polarisierung Gott – Maria war brisant und gefährlich.
Diese Gegenüberstellung entsprach der Idee von den beiden Reichen. Im ganzen Hoch- und Spätmittelalter und dann exzessiv wieder im 17. und 18. Jahrhundert unterschieden zahlreiche theologische Autoren das Reich der Gerechtigkeit, das Christus zugeordnet wurde, von dem Reich der Barmherzigkeit, für das Maria zuständig war. Kein Wunder, wenn die Menschen lieber und mehr zu Maria als zu Christus beteten.[374]
Die Verbundenheit des Zisterzienserordens mit Maria und sein großer Einfluß auf die Marienfrömmigkeit[375] spiegelt sich auch darin, daß alle Klöster und Kirchen des Ordens Maria geweiht waren.[376] Dies und die große Zahl der Klöster machen es wahrscheinlich, daß Bernhards Ideen über diesen Weg weite Resonanz fanden. Die anderen damals neuen Orden standen den Zisterziensern in der Marienfrömmigkeit nicht nach, so die Praemonstratenser, die Kreuzritter, die Gemeinschaften des Robert von Abrissel.[377]
Ein besonderer Verehrer des hl. Bernhard war Richard von St. Laurentius, der im 13. Jahrhundert in Rouen lebte und wirkte. Er ist der Verfasser des zwölfbändigen Werkes „De laudibus BMV“, bei dem es nicht mehr um eine Legendensammlung geht, wie sie damals beliebt waren. Richard „steht auf halbem Wege zwischen affektiver und spekulativer Theologie“, wie J. Roten ihn im „Marienlexikon“[378] charakterisiert. Richard bezeichnet, wie oben erwähnt, das Herz Marias als „triclinium totius trinitatis“, als Speiseraum (Refektorium) der ganzen Trinität, und vertritt die Ansicht, daß Marias Fleisch in der Eucharistie mitgereicht werde[379]. Im übrigen betont er die Mittlerschaft, Miterlösung und Fürsprache Marias und befindet sich damit im Mainstream der damaligen Theologie – und wohl mehr noch der Volksfrömmigkeit. J.Roten resümiert, daß Richard „trotz skurriler Bilder und Vergleiche“ für die Entfaltung der Mariologie ein „bahnbrechendes Werk“ hinterlassen habe.[380]
Bedenklich erscheint mir jedoch, daß Richard von St. Laurent bei seinen Lobpreisungen Marias einer gefährlichen Parallelisierung von Gott und Maria Vorschub leistet. Das paulinische Wort: „Si Deus pro nobis, quis contra nos“ (Rom 8,31) wendet er auf Maria an und erweitert es: „Et si Maria pro nobis, quis contra nos? Et si ipsa quae justificat, quis est qui condemnet?“[381] Und das Vaterunser paraphrasiert er so: „Mater nostra, quae es in coelis, panem nostrum quotidianum da nobis hodie de arca tua, id est, de arca, quae tu es.“ Auch liturgische Texte erfahren eine überraschende Umformulierung: „Per ipsam et in ipsa et ex ipsa augetur gloria Patris et Filii et Spiritus Sancti.“ J. Beumer meint dazu: „Sicherlich wird man keine dogmatischen Bedenken gegen ein derartiges Vorgehen anbringen können, nur das eine dürfte fraglich sein, ob es in jedem Falle das rechte Gefühl für das Schickliche zu wahren weiß.“[382]
Solche gewagten Formulierungen führten bei anderen Autoren nicht selten zu Grenzüberschreitungen, deren Rechtfertigung nur noch mit erheblicher Wortakrobatik zu leisten ist. Mechthild von Magdeburg scheut sich nicht, Maria eine „edel goettinne“ zu nennen und zu sagen: „Ir sun ist got und sie goettinne.“ [383] Das Volk liebte sie de facto mehr als Gott, dem es eher mit Angst begegnete. „Wie sehr Maria im Glauben des späten Mittelalters an der göttlichen Machtfülle teilhatte, ist bekannt“, faßt Dinzelbacher die Zeugnisse der Quellen zusammen.[384]
Natürlich gab es keinen Theologen, der Maria im strikten Sinne göttliche Prädikate zuerkannt hätte, und kein einigermaßen gebildeter Laie wäre ernsthaft auf eine solche Idee gekommen. Das hinderte aber nicht, daß die Menschen in einer religiös einmütig denkenden Gesellschaft sorglos und sehr unbefangen ihre Liebe zur Gottesmutter ausdrücken konnten, ohne dabei Gefahr zu laufen, Anstoß zu erregen oder grob mißverstanden zu werden. Es galt der mariologische Grundsatz: „De Maria numquam satis“[385], wonach man nie genug Lobenswertes von Maria sagen kann. Und so verwundert es auch nicht, daß in mystischer Sprache, in Liedern, Anrufungen, Litaneien und Hymnen im religiösen Überschwang Begriffe verwendet wurden, die nicht mehr erkennen ließen, ob damit Gottvater, Jesus oder Maria gemeint sein sollte. Die großen Theologen und die Kirche lehnten es selbstverständlich ab, Maria göttliche Attribute oder Funktionen zuzuerkennen, „in der Marienverehrung wurde dagegen die ‚göttliche Maria‘ zu einer opinio communis und die Verwendung gottgleicher Prädikate geradezu ein Kennzeichen hymnologischer Literatur.“[386]
Als die Einheit der Kirche zerbrach und die Reformatoren die christologische Mittlerschaft als biblisch begründete und einzig rechtmäßige Lehre vertraten, geriet damit auch das sorglose Dichten und Reden über Maria ins Zwielicht.
Martin Luther verurteilte den Titel Göttin für Maria[387]. Zwar läßt er den alten Grundsatz, daß Maria nie genug gelobt werden kann, gelten,[388] aber er dreht ihn auch um, wenn er durch ihn die Ehre Gottes geschmälert sieht: „Es ist besser, ihr zu viel Abbruch getan, denn Gottes Gnaden.“[389] Luther ließ zunächst die Anrufung und Verehrung Marias als Fürbitterin gelten, nicht aber als Fürspecherin („advocata“). Später lehnte er auch diese etwas komplizierte Unterscheidung und schließlich die Anrufung Marias überhaupt ab.[390]
Im Hinblick auf die Pest- und Gerichtsbilder sagt er: „Es ist Abgötterei, daß man weiset die Leute von Christo unter den Mantel Mariä, wie die Predigermönche getan haben! (...) Die malten die Jungfrau Maria also, daß der Herr Christus drei Pfeile in der Hand hatte, der eine war Pestilenz, der andere Krieg, der dritte war teure Zeit, womit er die Menschen strafen wollte. Allhier hielt Maria ihren Mantel (da)vor, auf daß die Menschen nicht getroffen würden.“[391]
Luthers Sorge war, daß die Heilstat Christi in den Hintergrund gedrängt, ja daß Christus dargestellt würde „gleich als wäre er ein grimmiger Tyrann, ein wütender und gestrenger Richter, der viel von uns forderte und gute Werke zur Bezahlung für unsere Sünden uns auferlegete, (...) vor dem man sich fürchten müsse wie (vor einem), der uns wolle in die Hölle stoßen.“[392] Es ging Luther also um die Ehre Gottes und um das evangelische Rechtfertigungsverständnis, bei dem die Anrufung der Gottesmutter und anderer Heiliger keinen Platz hatte. Das hinderte ihn aber nicht, eine „warme Zuneigung zu den lieben Heiligen“ beizubehalten, „auch wenn die kritischen Äußerungen immer häufiger werden.“[393]
Da wir es vom Thema her vor allem mit der Interzession der Gottesmutter zu tun haben, könnte der Eindruck entstehen, als sei Maria lediglich zur „universalen Agentin aller privaten Anliegen“[394] geworden oder, am Ende aller sonstigen, vergeblichen Bemühungen, zur „patrona causarum desperatorum“.[395]
Die Theologie des Hochmittelalters hatte im Gleichschritt mit der Christusmystik auch neue Zugänge zur Marienfrömmigkeit eröffnet. Die verstärkte Sicht auf die Menschheit Jesu führte zur Betrachtung seines Leidens, seiner heiligen Wunden, seines liebenden Herzens. In Wort und Bild begegnen uns Darstellungen des Gekreuzigten, des Schmerzensmannes, mit dem Vater und dem Heiligen Geist als Gnadenstuhl, mit Johannes als liebender Freund.
Vergleichbar sind die literarischen und ikonographischen Annäherungen an Maria. Das Thema der leidenden Gottesmutter bewegte die mittelalterlichen Menschen ganz besonders. Gern wollte man im „Stabat mater“ mit Maria unter dem Kreuze stehen und ihre Compassio mit ihr teilen. In den Vesperbildern (Pieta) trauerte man mit Maria, die ihren toten Sohn auf den Knien trug. Man betrachtete die „sieben Schmerzen“ Marias, sah die sieben Schwerter in ihrem Herzen in Erinnerung an die Weissagung Simeons und empfand eine tiefe Verbundenheit mit der Schmerzensreichen angesichts der vielfältigen eigenen Leiderfahrungen.
Abbildung 41: Schöne Madonna im Dom zu Minden
Abbildung 42: Demutsmadonna (mater humilitatis; Maria dell‘ Umiltà)[396]
Ebenso freute man sich mit Maria, teilte mit ihr die „sieben Freuden“, fühlte sich mit der „armen“ Maria verbunden[397], die ihr Kind selbst stillte, was als „niedrige Handlung“ galt[398], aber die Mütter aus dem Volke tröstete, bei denen sich „Schwangerschaft und Stillzeit fast ohne Unterbruch“[399] ablösten. Die Mutterschaft Marias kompensierte vielleicht auch das Gefühl der Minderwertigkeit wegen des eigenen Ehestandes, denn die damit verbundene Aufgabe der Jungfräulichkeit war ja (nach Ambrosius) eine „Verunstaltung des Schöpferwerks“[400], und nach Hieronymus ist die „Jungfräulichkeit natürlich“, „wohingegen der Ehestand sich nur auf Schuld gründet“[401]. Man erfreute sich an den „Schönen Madonnen“ (vgl. Abb. 41), am „Gnadenbrunnen“, der Christus und Maria oder auch Maria allein in der Gnadenvermittlung zeigte, an den geheimnisvollen Schreinmadonnen und an den Krönungsbildern Marias; sie waren „die im Spätmittelalter gängigste Himmelsdarstellung“[402]; hier sah man durch Maria Himmel und Erde vereint, ja ihre Himmelfahrt und Krönung beglückte sogar die Dreieinigkeit.[403]
Dem Reichtum und der Vielfalt der bildlichen Darstellungen[404] entsprechen die mündlichen und schriftlichen Lobpreisungen. Maria war Salus infirmorum, Advocata nostra, Redemptrix animarum, Mediatrix gratiarum: endlos ist die Zahl der Titel, unter denen man zu Maria betete. In Hymnen, Liedern, Volksstücken und vor allem in den Litaneien und Wallfahrtsliedern wurden sie festgehalten, ergänzt und umformuliert. Die gebildeten Schichten des Laienstandes bevorzugten das Marienoffizium[405] und beteten täglich das "Obsecro te" und "O intemerata"[406] mit Aufreihungen von Lobesworten über die Vorzüge Marias.[407]
Bis in unsere Tage sind Marienlieder und Mariengebete beliebt geblieben oder gewinnen wieder an Ansehen. Bei neueren Dichtungen muß die Spreu wohl noch vom Weizen getrennt werden. 1999 zum Beispiel erschien ein Büchlein: Gegrüßet seist du, Maria. Das Buch der schönsten Mariengebete.[408] Neben anerkannten alten Gebeten gibt es dort auch einige moderne Versuche. Hier ein Beispiel:
MARIA UND INTERNET
Maria!
Mein Computer ist wieder abgestürzt.
Hilflos sitze ich da
und warte auf den rettenden Experten.
Alle Daten sind verschwunden.
Mein Denken setzt aus.
Ohne Internet läuft nichts bei mir.
Ich warte.
Und wenn ich da nicht dich, Maria,
an meiner Seite hätte,
würde ich fluchen
und mich grün und blau ärgern.
So aber lächle ich und freue mich,
weil ich etwas Zeit habe
zum Luftholen,
zum Beten.
Du verstehst es mit mir, Maria.
Danke und
Amen.
Dieses von der Bistumszeitung „Kirche + Leben“ empfohlene „Buch der schönsten Mariengebete“ wird nicht mit ungeteilter Zustimmung rechnen können.[409]
Wir nähern uns einem Aspekt unseres Themas, der auf den ersten Blick eher befremdlich erscheint und der doch ebenso wie die Brustweisung Marias für das christliche Hoch- und Spätmittelalter selbstverständlich war. Die mütterliche Brust ist die Nahrungsquelle für das Kind, und in der kirchlichen Symbolik bedeutete die Milch das stärkende, lebenspendende Gnadengeschenk Gottes.
Schon in der Väterzeit hatte Gott, hatte Christus Brüste: das Alte und das Neue Testament, in denen uns Gottes Leben und Gnade, besonders in den Sakramenten, zufließen.
Nach der Lobpreisung Marias durch die Frau aus dem Volke: “Selig der Leib, der dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast“ (Lk11,27) finden sich im Neuen Testament bei Paulus (1Kor 3,2; Herbr 5,12-14) und bei Petrus (1 Petr 2,2) Hinweise auf eine Milchmetaphorik. Ja schon im Alten Testament waren „Milch und Honig“ Symbole für das Glück und den Reichtum des verheißenen Landes und Wein und Milch die kostenlosen Gaben des endgültigen Heils (Is 55,1 ff.).[410]
Im Mittelalter ergaben sich aus der mariologischen Auslegung des Hohenliedes neue Deutungsmöglichkeiten. Die sinnlich-anschaulichen Bilder der alttestamentlichen Brautdichtung und der Hochzeitslieder übertrugen die Theologen auf die Schönheit der Kirche, der Seele, Christi und Marias. Die Brüste der Braut werden zu Brüsten der Kirche, die ihre Kinder in den beiden Testamenten nährt oder zum Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe führt. Die allegorische Schriftauslegung der mittelalterlichen Theologen und Mystiker ermöglichte immer neue Deutungen der Brüste und ihrer lebenspendenden Milch.[411]
Auch Marias Brüste wurden mit den Brüsten der Braut des Hohenliedes gleichgesetzt[412]. Wir haben schon bei der „literarischen Geburt der Heilstreppe“ gesehen, welche Barmherzigkeit sich der Sünder von der Fürbitte Marias und ihrer Brustweisung erhoffen darf.
Und immer mehr wurde es die Milch aus diesen Brüsten Marias, die als Zeichen der mütterlichen Gnade und als Heilmittel für Seele und Leib verstanden wurde. Was in der mystischen Sprache der Helftaer Zisterzienserinnen (zu denen ja später auch Mechthild von Magdeburg (1208 – 1282/97) gehörte) noch allegorisch ausgedeutet werden konnte, verdichtete sich im Volksglauben immer mehr zu einem realistischen Verständnis, genährt durch eine Unzahl von Legenden und danach auch von bildlichen Darstellungen. Solche Sammlungen von Marienlegenden breiteten „sich seit der zweiten Hälfte des (12.) Jahrhunderts von England aus auf dem Kontinent“ aus[413] Dort (in England) waren in der Literatur Marienmilchwunder besonders beliebt.[414] Schon bald danach sammelte in Frankreich Gautier de Coincy (1177 – 1236), den wir oben schon kennen gelernt haben, die vielen kursierenden Legenden, zu denen auch Milchwunder zählten; so die Heilung eines kranken Mönches durch ein paar Tropfen von Marias Milch. Die bildliche Darstellung dieses Ereignisses erfolgte erst gut 100 Jahre später (Abb. 45) – ein weiterer Hinweis darauf, wie von der ersten literarischen Formulierung eines Motivs bis zu seiner ikonographischen Präsentation ein zeitlich langer Weg zurückzulegen ist.
Dem Säugling zu seiner Ernährung die Mutterbrust zu reichen, gehörte für die einfachen Frauen des Mittelalters zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags. So konnte diese Handlung auch zu einer sinnvollen und verständlichen Gebärde in der geistlichen Literatur und danach ebenso in der bildlichen Darstellung werden, ohne den geringsten Anstoß zu erregen. Die fließende Milch bedeutete keine qualitative Steigerung des bisherigen Motivs, sondern konnte als natürliche Fortsetzung der Brustweisung aufgefaßt werden, als „Steigerung der visuellen Explizität“, wie Marti/Mondini es formulieren.[415]
Und so häuft sich dieses einmal aufgegriffene Motiv in Literatur und Ikonographie des Hoch- und Spätmittelalters und klingt erst wieder ab, als auch im profanen Bereich neue Sensibilitäten[416] entstehen und zum Überdenken derartiger Darstellungen auffordern.
Die Entfaltung des Milchmotivs hatte sich bis dahin in sehr unterschiedliche Richtungen vollzogen, denen hier genauer nachgegangen werden soll. Es kann folgendermaßen unterschieden werden:
1. Marias Milch im metaphorischen Sinne
2. Marias Milch als überkommene Reliquie
3. Marias Milch als reales Heilungsmittel
4. Marias Milch als Heilsmittel für die „Armen Seelen“ im Fegefeuer
Von einer christlichen Neuentdeckung antiker Vorstellungen spricht G. Bandmann:[417] „ Hier hat schon früh Augustin einen ganzen Komplex antiker Vorstellungen ins Christliche gewendet und die Milchmetaphorik zum Verständnis der Aufnahme des Logos und der Gnade ausgebaut.“ Als in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Auslegung des Hohenliedes sich nicht mehr so vorherrschend auf das Verhältnis Christus – Kirche bezog, wie das bei den Vätern, etwa bei Gregor von Nyssa und Origines,[418] der Fall gewesen war, sondern Maria die Braut darstellte oder die mystische Liebe der einzelnen Seele und ihre Verbindung mit Jesus angesprochen wurde, verblieb das Milchmotiv noch ganz im metaphorischen Bereich.
Diese Linie setzte sich auch in der Mystik der Zisterzienserinnen von Helfta fort, wenngleich die Formulierungen dort so realistisch und anschaulich gewählt wurden, daß man sich die metaphorische Intention ausdrücklich bewußt halten muß. So etwa wenn Mechthild Maria anruft, die „die Propheten, Apostel, Heiligen sowie die gesamte sündige Menschheit mit ihrer Milch genährt hat“,[419] und sie bittet, uns weiterhin zu säugen, da ihre Brüste ja noch so voll sind;[420] oder wenn Mechthild sie beim Gericht schildert („wobei der Milch als Mittel, das Heil zu erlangen, besondere Bedeutung zukommt“[421]), wenn aus den unverhüllten Brüsten, die voll der süßen Milch sind, die Tropfen dahinfließen, „dem himelschen vatter zu eren und dem menschen zu liebe“.[422]
Auf die vielgestaltige Ausdeutung des Brust- und Milchmotivs, etwa im Sinne der beiden Testamente, in denen uns die Kirche nährt, oder des Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe, wurde schon hingewiesen. Im aufgeklärten, „modernen“ Bewußtsein sind solche Motive und diese Sprache in Metaphern kaum mehr als wunderliche Reminiszenzen.
Schon lange bevor Marias Milch gegenwärtig floß oder in solchen Vorstellungen gedacht wurde, gab es in der Christenheit an vielen Orten eine Verehrung der Milch Marias, die als Reliquie tropfenweise oder in kleinen Ampullen aufbewahrt wurde.
Es ist bekannt, mit welch einer, heute kaum vorstellbaren Leichtgläubigkeit im Mittelalter alle möglichen Reliquien gehandelt, gekauft und verehrt wurden; es ist geradezu peinlich, Beispiele dafür aufzuzählen. Jedenfalls gehörte auch Milch der Gottesmutter zu den hochangesehenen Reliquien. Der erste Bischof von Münster, der heilige Ludgerus (742 – 809), war auch glücklicher Besitzer einer Milchreliquie Marias, die Papst Hadrian I. (772 – 795) ihm zusammen mit einer Reliquie vom Blut Christi geschenkt hatte. Diese Reliquien trug er stets bei sich; er wollte sie seinem Kloster in Werden nach Fertigstellung der großen Kirche vermachen, deren Patrone der Erlöser und die Gottesmutter sein sollten. Große des Landes unterstützten dieses Vorhaben, weil sie sich Gewinn aus diesem Gnadenschatz erhofften.[423]
Im 12. Jahrhundert verehrte man in der lateinischen Kirche in 69 Heiligtümern Milch Marias als Reliquien[424], jeweils in größeren oder kleineren Mengen; verständlich, wenn der Franziskaner Bernhardin von Siena (1380 – 1444) als Volks- und Wanderprediger den damit verbundenen Aberglauben mit rhetorischer Übertreibung geißelte: „Es gibt Leute, die zeigen als Reliquien Milch der Jungfrau Maria. Ja, hundert Kühe haben nicht soviel Milch, als man von der Maria auf der ganzen Welt zeigt, und doch hatte sie nicht mehr und nicht weniger, als ihr Kind Jesus brauchte.“[425]
Ähnlich – und natürlich ironisch – äußert sich Erasmus von Rotterdam (1469 – 1536), mit ernsthafter theologischer Kritik der Benediktinerabt Guibert von Nogent (1053 – 1121) und – sehr drastisch – „der Wiener Universitätstheologe Nikolaus von Dinkelsbühl (um 1360 – 1433), die vielgerühmte ‚Leuchte Schwabens‘“.[426]
Es gibt allerhand „natürliche“ Erklärungen für die Herkunft dieser Milch, wonach z.B. zerriebener und mit Wasser verdünnter Kalk aus der Geburtsgrotte in Bethlehem die „Milchsubstanz“ bilden soll,[427] aber gegen Glauben und Aberglauben kommt eine derartige „Vernunft“ nur schwer an. Die Frage der Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien war für die mittelalterlichen Christen nicht eine Frage abwägenden Kalküls. Große Vermögen wurden dafür geopfert, die Gebeine zu erwerben und in kostbare Reliquiare zu fassen, wie man sie z. B. im Aachener Domschatz bewundern kann. Als Abbilder des Himmlischen Jerusalems umschlossen diese Behältnisse das Kostbarste, das es auf Erden gab. Einen Höhepunkt bietet in dieser Hinsicht die Ste. Chapelle in Paris, die Ludwig IX. in den Jahren 1236/37 für eine der bedeutendsten Reliquien der Christenheit, die Dornenkrone Jesu, errichten ließ.[428] Die Kapelle und noch mehr der kunstvolle Schrein als Aufbewahrungsort der Reliquie ruinierten fast den Staatsetat, aber sie bedeuteten einen unschätzbaren geistlichen Gewinn für Volk und König.
Die sich steigernde Marienfrömmigkeit des 12. Jahrhunderts führte auch zu Ergebnissen, die (aus heutiger Sicht) die Grenzen des religiösen Geschmacks übersteigen. In den Bildern hatte man Maria mit ihrem Kinde anschaulich vor Augen und in den plastischen Darstellungen war sie fast leibhaft gegenwärtig. Als der heilige Bernhard einmal vor einer solchen Statue kniete und das Gebet sprach: „Ave maris stella...“, gelangte er beim vierten Vers an den Satz: „Monstra te esse matrem...“[429] Da spritze Maria einige Tropfen aus ihrer mütterlichen Brust auf die Stirn oder in den Mund ihres frommen Verehrers.[430] (Abb. 43).
Dieses Ereignis wurde bis in die Barockzeit hinein in immer neuen und gewagteren, manchmal drastischen Bildern vorgestellt. (Abb.44). Eine Zusammenfassung solcher Darstellungen[431] zeigt, wie die Bilder, über ganz Europa verbreitet, mit unterschiedlicher Dezenz das Thema behandeln.
Abbildung 43: Milchgabe an St. Bernhard Abbildung 44: Barocke Überzeichnung der Lactatio
Die Lactatio Bernardi wurde vielfach geistig umgedeutet und mit der salomonischen „Sedes sapientiae“ in Verbindung gesetzt. Maria verkörperte dann diesen „Sitz der Weisheit“ und teilte dem hl. Bernhard von ihren Gaben mit. Solche Sublimierungen setzten sich aber kaum durch; zu anschaulich-realistisch waren Legenden und Bilder, die das Ereignis als glaubhaft im Volk wachhielten. Überall wußte man auch, daß sich St. Bernhard mit der Gottesmutter besonders gut stand. Als er ihr Bild, anläßlich seiner Kreuzzugspredigt, im Dom zu Speyer begrüßte, erwiderte sie den Gruß mit einem „Salve, Bernarde,“[432] wie sie es auch bei anderer Gelegenheit[433] nochmals tat.
Die Milchgabe Marias blieb kein Einzelfall. In der Patrologia Latina von Migne ist eine Reihe von Collactanei aufgezählt, von Milchbrüdern des Jesuskindes also, die durch Marias Milch genährt oder geheilt wurden:[434] Johannes Chrysostomus, Fulbert von Chartres, Bernhard, Dominikus, als einzige Milchschwester Katharina von Siena, Alanus von Rupe, Professor und Förderer des Rosenkranzgebets (1428 – 1475), und ein namentlich nicht genannter Mönch mit einer schaudererregenden Mundkrankheit.
Sie alle fanden Gesundheit und Kräftigung durch eine mehr oder weniger ausgiebige Stärkung mit Marias Muttermilch. Als ein solches Beispiel soll die Heilung des Bischofs Fulbert von Chartres (†1028) vorgestellt werden:[435] Der ehrwürdige Bischof war sterbenskrank; er litt an einer Krankheit, die man „heiliges Feuer“ (sacrum ignum) nennt und die seine Zunge verbrannte. Eines Nachts, als er ungewöhnlich zu leiden hatte, erblickte er eine hellstrahlende Dame mit großem Gefolge und großer Pracht, die ihn aufforderte, den Mund zu öffnen. Er tat es, und da preßte dieses schönste Mädchen (puella, auch: junge Frau), die Gottesgebärerin, plötzlich die heiligste Milch aus ihrer Brust und erfrischte seine Zunge ganz und gar und heilte sie. Die Wangen (der Mund) Fulberts wurden von der heiligsten Milch durchspült, und dieser wischte mit einem kostbaren Leinentüchlein ein paar Tropfen der Milch zum Zeichen für das Wunder ab. Diese kann man bis heute in der Kirche von Chartres sehen und verehren.
Den heiligen Dominikus nährte Maria, als er halbtot von den Auseinandersetzungen mit den Albigensern und nach tagelangem Hungern, zurückgezogen in einem Wald, fast am Ende war.
Katharina wurde besonders großzügig (ingenti munere) mit den Köstlichkeiten dieses himmlischen Nektars beschenkt.
Alanus von Rupe war einst im Gebet versunken, als Maria ihm die Milch in den Mund fließen ließ.
Ein ungenannter Kleriker, ein großer Verehrer der Gottesmutter, erkrankte eines Tages so schwer, daß er sich vor Schmerzen den ganzen Mund zerbiß. Zu ihm eilte Maria ans Krankenbett und heilte ihn vollständig mit ihrer Gabe.
Abbildung 45: Marias Milch heilt einen Mönch
Über mehr als 1000 Jahre blieb die Frage nach dem Interim, dem Zwischenzustand der verstorbenen Christen zwischen Tod und Auferstehung ungeklärt. Die theologischen Lösungsversuche konnten auf kein eindeutiges biblisches Fundament zurückgreifen, da die junge Kirche mit der baldigen Wiederkunft Jesu rechnete und die Frage nach einem Interim daher zu Anfang keinen Sinn machte. Wie wir oben bereits gesehen haben, mußten allerdings schon die Apostelbriefe und die Apokalypse Antworten geben, da die Parusie auf sich warten ließ und die ersten Christen längst gestorben waren.
Das im Hochmittelalter entwickelte „Jenseitsmodell“[436] konnte sich schließlich durchsetzen und wurde auf den Konzilien von Lyon (1245 und 1274) in dogmatisch-verbindlicher Form sanktioniert. Die Frage des Limbus, des angeblichen Aufenthaltsortes der ungetauft verstorbenen Kinder, bleibt jedoch bis heute merkwürdig unbestimmt. Auch der neue Weltkatechismus äußert sich – zum Glück! – unverbindlich und formuliert eher pastoral zuversichtlich.[437]
Zur selben Zeit setzte sich ein neues Beicht- und Bußverständnis mit klarer Unterscheidung von Tat- und Intentionshaftung durch[438] und mit der Vergebung der Schuld nach aufrichtiger Reue, ohne vorherige „Ableistung des vorgeschriebenen Bußwerkes“.[439] Aber „auch nach Abaelard läßt Gott keine Sünde ungestraft“, und deswegen mußten die „nur noch zeitlichen Sündenstrafen“ (...) „entweder während der irdischen Lebenszeit oder aber in der jenseitigen Läuterung“ abgebüßt werden.[440]
Diese „Läuterung“ oder dieser „Läuterungsort“ war das Purgatorium, zu deutsch: das Fegefeuer.
Das Schuldbewußtsein auf Erden und die Angst vor dem Jenseits waren mit dieser theologischen Klärung bei weitem nicht gebrochen, aber es bestand und man sah eine Möglichkeit, durch Buße und die Ableistung guter Werke den Himmel doch noch zu erlangen. Die Lehre von der Ecclesia militans, der Ecclesia patiens und der Ecclesia triumphans als der umfassenden Gemeinschaft aller Christen zeigte zugleich Wege auf, wie die kämpfende und die leidende Kirche die Vereinigung mit der triumphierenden Kirche schneller und sicherer erreichen konnten.
So entstand die vielgestaltige Sorge für die „Armen Seelen im Fegefeuer“. Die Kirche konnte mit Gaben aus dem Thesaurus ecclesiae, der angefüllt war mit den Verdiensten Christi und der Heiligen, zu Hilfe kommen, etwa durch Ablässe, die auch den Armen Seelen „zugewendet“ werden konnten.
Die Heiligen konnte man um Fürbitte anrufen, durch gute Werke verkürzte man die Leidenszeit der Seelen im Fegefeuer, und mit dem „Seelgerät“ schaffte man für sich „einen Vorrat für die Seele“, „einen Schatz im Himmel“, etwa durch Spenden, Stiftungen, durch „gute Werke“ allgemein.[441]
In diesem Heilsbemühen konnte die Muttergottes nicht abseits stehen. Ihre Hilfe sollte nicht nur den Lebenden zugute kommen, auch die Armen Seelen bedürfen ihres Beistandes, den sie ihnen auch auf mütterliche Weise gewährt. Das Motiv der Milchgabe wird in der Armen-Seelen-Fürsorge und in der entsprechenden Ikonographie uneingeschränkt, ja noch verstärkt wirksam. Mochte die Lactatio nur den Collactanei gewährt und in mystischer Weise als universelle Lactatio, als Labung auf alle Menschen ausgeweitet worden sein, so wurde sie jetzt zum wirksamen Mittel des Heils für alle Seelen im Fegefeuer.
Abbildung 46: Maria spendet ihre Milch den Seelen im Fegefeuer
Den Nachdenklichen mußte natürlich der Unterschied der Milchgabe an bevorzugte Menschen und an die Armen Seelen bewußt sein. Während die Collactanei „wirklich“ mit der Milch gelabt wurden, konnte deren Zuwendung an die Leidenden im Fegefeuer wegen ihres unkörperlichen Zustandes nur in einem geistlichen, übertragenen Sinn verstanden werden.
In kaum noch zu überbietendem „Realismus“ wird diese Hilfe Marias auf dem Bild der „Madonna delle Grazie“ von Filotesi dell`Amatrice (um 1508) vor Augen geführt. (Abb. 46).
Wem solche Bilder unbekannt sind, der möchte die Darstellung für eine einmalige Sonderform, für einen „Ausreißer“ aus der üblichen Ikonographie des Armen-Seelen-Kultes halten. Die Besonderheit dieses Bildtypus kennt jedoch ungewöhnlich viele Wiederholungen und Variationen. „In Kampanien und im eng angrenzenden Gebiet wurden im Zeitraum zwischen 1470 und 1620 über 200 Votivbilder geschaffen, in denen Maria als Gnadenmutter, meist mit entblößten Brüsten, zu den Seelen im Fegefeuer tritt.“[442]
Auf dem hier gezeigten Bild segnet das Jesuskind auf dem rechten Arm Marias die Armen Seelen und heißt das Werk seiner Mutter gut.[443] Das fast belustigend wirkende Auftauchen der Armen Seelen (Menschlein) aus den unterirdischen Feuerlöchern entsprach nicht mehr dem theologischen Standard, aber der Streit darum, ob das Feuer im Purgatorium ein echtes Feuer im irdischen Sinne oder ob es geistig zu interpretieren sei, war noch längst nicht endgültig entschieden. Und das Gleiche gilt für die topographische Bestimmung des Fegefeuers.
Der Münsteraner Dogmatiker Joseph Bautz hat sich noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Frage der Örtlichkeit von Hölle und Fegefeuer auseinandergesetzt und kommt zu folgendem Ergebnis: Die Hölle befindet sich im Inneren unserer Erde, wie im Anschluß an die heilige Schrift Väter und Theologen mit großer Übereinstimmung lehren.[444] Dabei bezieht er sich auch auf die Gesichte der „gottseligen Katharina Emmerich“, die „Hölle und Fegefeuer in das Innere der Erde verlegt.“[445] Auch der Zugangsweg zu Hölle und Fegefeuer ist nicht unbekannt: der Krater der feuerspeienden Berge. Das verbürgen alte Visionen von Gregor und Beda. Die älteste Vita des Abtes Odilo von Cluny überliefert die Vision eines Sizilienreisenden von „im Feuer des Vulkans schmachtenden Seelen“, die dank der Fürbitte der Mönche in Cluny „den Qualen des Feuers entrissen würden.“[446]
LeGoff berichtet u.a. über „Das Fegefeuer des heiligen Patrizius“ in Irland, eine Art Grube[447], in der die Sünden abgebüßt werden; „Der sizilianische Versuch“ dagegen läßt „aus dem Krater eines Berges die Klagen der Toten, die dort gereinigt werden,“ vernehmen.[448] „Hier wird der Ätna als ein Ort des Jenseits, als Verbindung zwischen dieser Welt und dem Gehenna, zwischen den Lebenden und den Toten bestätigt.“[449]
Bei Bautz kann man sich über alle Detailfragen der jenseitigen Örtlichkeiten, der vier Receptacula[450] (Hölle, Fegefeuer, Limbus puerorum und der sinus Abrahae, von denen der Schoß Abrahams aber jetzt schon leer ist, dank der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, der die Gerechten des Alten Bundes mit sich geführt hat)[451], informieren: über ihre Lage zueinander, ihre Dauer, ihre Bewohner, über die Natur und Tatsächlichkeit des Feuers.[452] Eines dieser Receptacula ist der umstrittene Limbus, der Aufenthaltsort der ungetauft verstorbenen Kinder, auf den oben schon kurz hingewiesen wurde. Der „Katechismus der katholischen Kirche“ von 1993 äußert sich zu diesem ominösen Ort nicht mehr und stellt zum Schicksal der Kinder fest: „Was die ohne Taufe verstorbenen Kinder betrifft, kann die Kirche sie nur der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen“. Es besteht die berechtigte „Hoffnung, daß es für die ohne Taufe gestorbenen Kinder einen Heilsweg gibt.“[453]
Abbildung 47: Zwei Feuerrachen für Fegefeuer und Hölle
Zum Fegefeuer speziell werden bei Bautz weitere Auskünfte gegeben. Es befindet sich in unmittelbarer Nähe zur Hölle, und in ihm brennt auch das gleiche Feuer[454] (Abb. 47), wie die Visionen der Mystikerinnen Mechthild von Magdeburg und Brigitta von Schweden eindeutig bezeugen. Freilich muß man beim Fegefeuer zwischen dem ordentlichen und dem außerordentlichen Reinigungsort unterscheiden. Der ordentliche befindet sich an der schon genannten Stelle unter der Erde und nahe bei der Hölle, der außerordentliche ist die Erde selbst, da „bisweilen an verschiedenen Orten hier auf Erden büßende Seelen angetroffen wurden“.[455] Diesmal gilt Marina von Escobar[456] als Kronzeugin.
Einige Bewohner des Fegefeuers dürfen auch schon einmal einen vorzeitigen Blick in den Himmel tun, aber es „wird nur bei ganz erlesenen Seelen solche Frucht gezeitigt.“[457] Dagegen ist aber zu erwarten, „daß gerade zwischen dem Fegefeuer und der Erde ein besonders lebhafter und fortgesetzter Verkehr bestehe.“[458]
Man möge die belehrende Abschweifung verzeihen. Schon die Studenten damals werden diese Jenseitsaufklärungen ihres Professors nicht ganz ernst genommen haben, nannten sie ihn doch, wenig respektvoll, „Höllen-Bautz“.[459]
Viel ernster dagegen war das theologische Problem zu nehmen, das mit der heilbringenden Milchspende Marias aufgeworfen wurde. War es nicht eindeutige Glaubenslehre, daß Jesu Blut es ist, das allen Menschen Erlösung bereitet? Hier nun wird, optisch unzweifelhaft, Marias Milch das (alleinige) Heilsmittel für die Armen Seelen. Auf die Spitze getrieben könnte man sagen: Maria erscheint hier nicht als Corredemptrix, sondern als „autonome Erlöserin“.[460] Mariens Milch ist nicht mehr nur Zeichen der Fürbitte, Zeichen der besonderen Bevorzugung und Zeichen natürlicher Heilung, sondern Mittel zur Rettung und Befreiung der Armen Seelen aus dem Fegefeuer.